Siegfried Kracauer (1889-1966)

Kulturphilosoph - Soziologe - Filmtheoretiker - Romancier - Architekt

Vita

  • 8.2.1889 geboren als Sohn des Frankfurter Kaufmanns Adolf Kracauer und seiner Frau Rosette
  • ab 1907 Studium der Architektur in Darmstadt, Berlin und München. Nebenfächer: Philosophie und Soziologie (u.a. bei Georg Simmel)
  • 1909 Diplom-Ingenieur-Examen, Technische Hochschule München.
  • 1911-14 Promotion zum Dr. ing. mit dem Thema Die Entwicklung der Schmiedekunst in Berlin, Potsdam und einigen Städten der Mark vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, 1915 veröffentlicht.
  • 1917 nach kurzer Zeit als Soldat Freistellung für zivile Bauvorhaben. Arbeit als Architekt in Frankfurt a.M. und 1918 kurz in Osnabrück. Kontakte zu Max Scheler und Theodor W. Adorno.
  • 1919 Arbeit über Georg Simmel. Ein Beitrag zur Deutung des geistigen Lebens unserer Zeit.
  • 1920 schreibt Kracauer Soziologie als Wissenschaft. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung über die (Un)Gültigkeit philosophischer Grundlagen der Wirklichkeitswissenschaft Soziologie (erscheint 1922, vgl. Schriften 1). Verbindung mit einer Gruppe jüdischer Intellektueller um Franz Rosenzweig und den Rabbiner Nehemiah A. Nobel.
  • 1921 entsteht der Essay Über die Freundschaft (vgl. Schriften 5.1).
  • ab 1921 Feuilleton-Redakteur der Frankfurter Zeitung. In dieser Zeit entstehen enge  Bindungen mit Walter Benjamin und Ernst Bloch. Es erscheinen u.a. (vgl. Schriften 5.1-3): 
    • Autorität und Individualismus (1921)
    • Georg von Lukács Romantheorie (1921)
    • Die Wartenden (1922) 
    • Untergang? [zu Spengler] (1923) 
    • Gestalt und Zerfall (1925) 
    • Der Prozeß [zu Kafka] (1925) 
    • Die Bibel auf Deutsch [zur Bibelübersetzung von Buber/Rosenzweig] (1926) 
    • Das Schloß [zu Kafka] (1926) 
    • Ornament der Masse (1927) 
    • Die Photographie (1927) 
    • Zu den Schriften Walter Benjamins (1928) 
    • Zwei Arten der Mitteilung (1929) 
    • Über Arbeitsnachweise. Konstruktion eines Raumes (1930)
    • Minimalforderung an die Intellektuellen (1931)
    • Franz Kafka (1931)
    • viele maßgeblichen Film-Rezensionen (vgl. Kino. Essays, Studien, Glossen zum Film)
  • 1922-25 Der Detektiv-Roman. Ein philosophischer Traktat entsteht, eine an Kierkegaards Existentialismus angelehnte Kritik des 'intellektualistischen Charakters' der Kultur, der er in der Reinform des rein verstandesmäßig operierenden 'bindungslosen Intellektes', der Figur des Detektivs, einen Zerrspiegel vorhält. Die Wirklichkeit, wie sie 'eigentlich' sei, werde 'künstlich ausgeschaltet' und das Durcheinander zur 'Fratze' entstellt (vgl. Schriften 1).
  • 1928 erscheint anonym der autobiographisch gehaltene Grotesken-Roman über die Zeit des Krieges Ginster. Von ihm selbst geschrieben (vgl. Schriften 7).
  • 1929 widmet Kracauer erstmals einer noch weitgehend unerforschten Welt eine soziologische Milieustudie: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. (vgl. Schriften 1)
  • 1930 wird Kracauer nach Berlin 'fortgelobt' und übernimmt die dortige Feuilleton-Redaktion der Frankfurter Zeitung. Heirat mit Lilli Ehrenreich.
  • 1928-34 entsteht der Roman Georg, der in Fortsetzung von Ginster die "jähen Wandlungen der Nachkriegszeit" schildert. Der Gesellschafts- und Entwicklungsroman erscheint posthum 1973 (vgl. Schriften 7).
  • 1933 muss Kracauer Deutschland verlassen und geht ins Exil nach Paris. Dort schreibt er nur noch vereinzelt für französische und schweizerische Zeitungen.
  • 1934-35 Nach Georg bearbeitet Kracauer in einer Gesellschafts- und Künstlerbiographie Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Adorno, der eine musiksoziologische Auseinandersetzung erwartete, kritisierte das Projekt harsch. Es kam zu unüberwindlichen Differenzen, wonach sich Kracauer mehr und mehr zurückzog. Dennoch halfen Adorno und Horkheimer bei der späteren Emigration in die Vereinigten Staaten. Die Veröffentlichung von Offenbach erfolgt 1937.
  • 1939/40 Zweimalige französische Internierung, nach Einmarsch der Deutschen Flucht nach Marseille.
  • 1941 Emigration über Spanien und Portugal nach den Vereinigten Staaten. Neubeginn in New York. Beschäftigung in der Library des Museum of Modern Art.
  • 1942-45 schreibt Kracauer eine Sozialgeschichte des deutschen Films: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, die für ihn gleichzeitig eine Aufarbeitung der geistigen und politischen Situation der Weimarer Zeit bedeutet. Veröffentlichung 1947 bei Princeton University Press.
  • 1946 Siegfried und Lilli Kracauer werden amerikanische Staatsbürger. Eine Rückkehr nach Deutschland, wie Adorno und Horkheimer es taten, war für Kracauer ausgeschlossen, weil er sich vom 'Alteuropa' inzwischen völlig gelöst hatte: "wir haben ja in den siebzehn Jahren nach unserem Weggang weiter gelebt und gelernt, und es hieße, dieses ganz neue Leben zu verleugnen und zunichte zu machen, wollte man sich wieder unter die Spukgestalten von damals mischen" (in einem Brief vom 10.9.1950).
  • 1952-58 Research Director am Bureau of Applied Social Research an der Columbia University.
  • 1959 Mit seiner Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit widmet sich Kracauer der soziologisch-phänomenologischen Neuentdeckung der Objektivität der Außenwelt, wie schon zuvor in den Angestellten, Ginster und Offenbach, entsprechend seiner erkenntnistheoretischen Grundintention, die er bereits in Soziologie als Wissenschaft deutlich macht.
  • 1965 Associate Member des Seminars für Hermeneutik an der Columbia University.
  • 1960-66 Kracauers letzte große Arbeit, die ihn bis zu seinem Tod beschäftigte, war Geschichte vor den letzten Dingen. Es ist eine Auseinandersetzung mit den wichtigsten geschichtsphilosophischen und -theoretischen Ansätzen der Moderne. Auf anderem Felde als in der Theorie des Films, aber der gleichen erkenntnistheoretischen Intention folgend, umreißt Kracauer dabei eine Geschichtstheorie, die genügend Freiraum bietet, um entsprechend der 'nicht-homogenen Struktur des intellektuellen Universums' die 'namenlosen Möglichkeiten' und 'potentiellen Wahrheiten' 'in den Zwischenräumen der vorhandenen Lehren hoher Allgemeinheit' und 'dogmatisierten Glaubensrichtungen der Welt' zu denken. Diese Einsicht Kracauers hat viel gemein mit jenen Diskursen, denen es um die Wiedergewinnung von Humanität im philosophischen Denken geht, die unter den Stichworten von 'différance' (Derrida) und 'différend' (Lyotard) dem Anderen und den Dingen Gerechtigkeit widerfahren lassen (Levinas) und dasjenige in den Blick nehmen wollen, was als Transzendentes, Anderes oder Heterogenes von den 'Modernen' ignoriert wird. Das Buch wird von Kracauers Freund, dem Historiker Paul Kristeller aufgrund der weitgehend ausgearbeiteten und z.T. druckfertigen Manuskripte nach den Plänen Kracauers vervollständigt und 1969 posthum veröffentlicht.
  • 26.11.1966 Siegfried Kracauer stirbt in New York an den Folgen einer Lungenentzündung.

Werk

Werke

in neun Bänden (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main)

 

Der Suhrkamp-Verlag gibt Siegfried Kracauers Werke in einer umfassenden Neuausgabe heraus. Neben bereits erschienenen Schriften Kracauers enthält die Ausgabe auch eine Vielzahl von bisher unbekannten Texten sowie Studien, Entwürfe und Varianten aus dem umfangreichen Nachlass. Alle Texte werden kritisch durchgesehen und kommentiert. Sämtliche Bände der alten Ausgabe, die durch diese Neuausgabe ersetzt wird, werden unter Rückgriff auf den Nachlass neu editiert, erheblich ergänzt, z.T. neu übersetzt und mit Registern versehen. Zudem erscheinen drei neue Bände, die nicht Teil der alten Ausgabe waren. Auf dieser Grundlage wird der Beitrag des Werkes von Siegfried Kracauer für die Kulturtheorie der Gegenwart neu zu bestimmen sein. Besorgt und herausgegeben werden die "Werke in neuen Bänden" von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke.

 

Bd. 1: Soziologie als Wissenschaft. Der Detektivroman. Die Angestellten (Frühjahr 2006).

Bd. 2.1: Von Caligari zu Hitler (Frühjahr 2008).

Bd. 2.2: Studien zu Massenmedien und Propaganda (Frühjahr 2008).

Bd. 3: Theorie des Films (Frühjahr 2005).

Bd. 4: Geschichte - Vor den letzten Dingen (Frühjahr 2007).

Bd. 5: Essays, Feuilletons und Rezensionen (4 Teilbände, Herbst 2006).

Bd. 6: Kleine Schriften zum Film (3 Teilbände, 2004 erschienen).

Bd. 7: Romane und Erzählungen (im Herbst 2004 erschienen).

Bd. 8: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (Herbst 2005).

Bd. 9: Frühe Abhandlungen aus dem Nachlass (2 Teilbände, 2004 erschienen).

 

Schriften

in neun Bänden (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main)

 

Bd. 1: Soziologie als Wissenschaft. Der Detektiv-Roman. Die Angestellten (1971).

Bd. 2: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films (1979).

Bd. 3: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (1973).

Bd. 4: Geschichte - Vor den letzten Dingen (1971)

Bd. 5: Aufsätze I, 3 Teilbände: 5.1: 1915-1926, 5.2: 1927-1931, 5.3: 1932-1965 (1990).

Bd. 6: Aufsätze II (zum Film - geplant).

Bd. 7: Ginster. Georg (1973).

Bd. 8: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1976).

Bd. 9: (aus dem Nachlass - geplant)

 

 

Textsammlungen

von Siegfried Kracauer selbst herausgegeben

  • Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1963.
  • Straßen in Berlin und anderswo, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1964.

 

Posthume Veröffentlichungen

  • Kino. Essays, Studien, Glossen zum Film, hg. v. Karsten Witte, Frankfurt/M.:Suhrkamp, 1974.
  • Berliner Nebeneinander. Ausgewählte Feuilletons 1930-33, hg. v. Andreas Volk, Zürich: Edition Epoca, 1996.
  • Frankfurter Turmhäuser. Ausgewählte Feuilletons 1906-30, hg. v. Andreas Volk, Zürich: Edition Epoca, 1997.